Ahmet Hamdi Tanpınar und Istanbul, der perfekte Spiegel türkischer Kultur

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Am 04.05.2017 hielt die Turkologin, Übersetzerin und Mitgründerin des Verlags Literaturca, Beatrix Caner, im Yunus Emre Enstitüsü, dem Türkischen Kulturzentrum Wiens, unter dem Titel „Ahmet Hamdi Tanpınar- Der perfekte Spiegel türkischer Kultur” einen Vortrag über einen der bedeutendsten Schriftsteller der türkischen Moderne.
Die Direktorin des Yunus Emre Enstitüsü Wien, Ayşe Yorulmaz, begrüßte das Publikum mit einer kurzen Biographie zur Vortragenden Beatrix Caner. Die gebürtige Ungarin und Absolventin der Turkologie hatte sich seit jeher mit türkischer Literatur beschäftigt und übersetzte zahlreiche Werke bedeutender türkischer Literaten ins Deutsche.
Beatrix Caner eröffnete ihren Vortrag mit einigen biographischen Daten zum Leben des noch im Osmanischen Reich geborenen Literaten und Intellektuellen Ahmet Hamdi Tanpınar. Sie erzählte von Ereignissen, welche ihm den Weg zu seiner späteren literarischen und auch philosophischen Tätigkeit öffneten, darunter seine prägende Begegnung mit dem Dichter Yahya Kemal. Das Publikum durfte dem Gedicht „Aziz Istanbul“ von Yahya Kemal lauschen, welches „wie ein poetischer Rahmen für die Ansichten Tanpınars” wirke. Wie der Titel des Vortrags vorwegnimmt, stand die Stadt Istanbul im Zentrum von Caners Vortrag. Istanbul nimmt demnach eine Schlüsselrolle in Tanpınars Werken ein, wobei diese gleichzeitig als „ästhetische Wissensquelle“ über die Stadt am Bosporus dienen. Caners Vortrag war gespickt mit Zitaten aus Tanpınars Essay „Istanbul”, wodurch sie die vorgetragenen Inhalte zum Leben erwachen ließ und den ZuhörerInnen einen Einblick in die Gefühlswelt und Wahrnehmung des Autors verschaffte. Die Anwesenden bekamen nicht nur eine Vorstellung davon, wie Tanpınar das damalige, längst verschwundene Istanbul sah, sondern auch wie er es hörte, die Stimmen der Straßenverkäufer, der Ruf des Muezzins... Sie sprach vom Begriff der Synthese, wie er oft im Zusammenhang mit Tanpınar genannt wird, in der Bedeutung einer Verschmelzung von Ost und West in Kunst und Kultur, aber auch im Alltagsleben. Eine Verbindung, die für ihn völlig selbstverständlich war, das eine schloss das andere nicht aus. Damit einher ginge jedoch auch seine Suche nach einer türkischen Identität, welche mit Gründung der Republik neu erschaffen werden sollte, jedoch konnten und sollten alte Lebensformen sich nicht so leicht unterdrücken lassen, würde dies doch in einer völligen Entwurzelung der Nation enden. Für Tanpınar erschien „die Kontinuität der türkischen Kultur und Geschichte als wichtige Grundlage einer Identitätsfindung, die aber neu bewerkstelligt, neu geordnet und neu erlernt werden muss, weil in der Zwischenzeit Vieles verschüttet ist.“ Tanpınar widmete sich intensiv europäischen Künstlern und Denkern sowie der Art der Aufarbeitung historischer Ereignisse in Europa. Immer wieder habe Tanpınar jedoch die Bedeutung der eigenen –türkischen- Geschichte hervorgehoben, denn „ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft“. Dies unterstrich Caner mit einem Zitat aus Tanpınars Essay „Istanbul“: Das ist unser größtes Problem: Wo und wie können wir eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen; wir alle sind Kinder einer Bewusstseins- und Identitätskrise und erleben Hamlets Frage nach „Sein oder Nichtsein“ noch einschneidender als dieser. Je mehr wir unsere Vergangenheit aneignen, desto eher werden wir unser Leben und unser Schaffen selbst bestimmen. Vielleicht genügt es bereits, wenn wir lediglich danach suchen und an all ihre Pforten klopfen.
In weiterer Folge begab sich Caner auf einen Weg durch die Geschichte Istanbuls, führte die ZuhörerInnen von Epoche zu Epoche, von Monument zu Monument und durch Tanpınars Sicht der Dinge. Vor ihrer Abreise hinterließen Beatrix Caner und ihr Mann Mesut Caner, die 2001 gemeinsam den Verlag Literaturca gegründet hatten, der sich auf die Publikation türkischer Literatur in deutscher Übersetzung konzentriert hat, einige von Caners Übersetzungen und mehrere Exemplare der von ihr verfassten Monographie „Tanpınars Harmonie“. Für Caner liegt die Besonderheit und der Reichtum in Tanpınars literarischem Erbe nicht zuletzt darin, dass, “wie oft man seine Literatur auch in die Hand nimmt, sich immer etwas Neues darin entdecken lässt“.